Es gibt wohl kaum eine Familie, deren Geschichte so eng verbunden ist mit dem Mauerfall wie die Geschichte der Familie Hildebrandt. Umso schöner, dass ich drei Hildebrandts aus drei Generationen in meinem Büro begrüßen durfte. Gemeinsam haben wir uns auf eine Reise in die bewegende Nacht des 9. November 1989 gemacht und haben einen Blick auf die Nachwende-Erfahrungen und auf die aktuellen Entwicklungen in Deutschland zwischen Ost und West geworfen.

Die Nacht des 9. November 1989 aus drei unterschiedlichen Perspektiven

Rückblickend auf die Nacht des Mauerfalls berichtete Jörg, der Ehemann von Regine Hildebrandt, von seiner unfassbaren Überraschung angesichts der Ereignisse. Als er die Nachricht vom Fall der Mauer von einem Bekannten am Telefon erhielt, konnte er es kaum fassen und scherzte zu seiner Frau: „Wenn die Mauer heute gefallen ist, wird sie morgen auch noch fallen“, und plante bereits schlafen zu gehen.

Die ehemalige Sozialministerin von Brandenburg, Regine Hildebrandt, konnte jedoch ihre Aufregung nicht zügeln. Die gesamte Familie machte sich auf den Weg zur Bösebrücke, dem Grenzübergang Bornholmer Straße in Prenzlauer Berg, wo sie die ereignisreiche Nacht des 9. Novembers 1989 miterlebten. Regine und Jörg Hildebrandt sind beide in der Bernauer Straße aufgewachsen und haben den Mauerfall hautnah erlebt und die brutale deutsch-deutsche Teilung immer für grundfalsch gehalten.

Ihre Tochter Elske erinnerte sich daran, dass es eine „ganz irre Nacht“ war, und sie sich damals, mit 15 Jahren, nicht vorstellen konnte, jemals „in den Westen“ zu gehen. Vielleicht im Alter, wenn sie in Rente ist, aber zuvor schien es undenkbar. Als sie im Berliner Wedding ankamen, stellte sie erstaunt fest, dass die Kopfsteine dort genauso aussahen wie im Ostteil der Stadt.

Die Erzählungen vom Mauerfall in der Familie erweckten bei Enkel Franz, der 1991 geboren wurde, den Eindruck von Märchen – etwas, das vielleicht geschehen war, aber schwer greifbar schien. Wenn er die Aufnahmen aus der Nacht sah, dachte er sich in seiner Kindheit nur: „Die hatten schreckliche Klamotten an und haben auf der Mauer getanzt.” Als junger Mensch erschien ihm der Mauerfall und seine Tragweite zunächst nicht besonders relevant. Erst in den letzten Jahren fiel ihm vermehrt auf, dass soziale Ungleichheiten zwischen Ost und West bestehen.

Den Osten sichtbar machen und Gehör verschaffen

In unserem Gespräch sprachen wir auch über das Erstarken antidemokratischer Kräfte wie der Alternative für Deutschland (AfD). Insbesondere Elske, die im kommenden Jahr bei der Landtagswahl 2024 für den Wiedereinzug in den Brandenburger Landtag kandidieren wird, betonte, dass die vermeintlichen Erfolge der AfD kein rein ostdeutsches Problem sind. Die Führungspersonen der AfD stammen hauptsächlich aus den alten Bundesländern, und auch die jüngsten Landtagswahlen in Hessen und Bayern haben gezeigt, dass die AfD in westdeutschen Bundesländern hohe Wahlergebnisse erzielt.

Es ist unsere politische Verantwortung, die Lebensbedingungen zwischen Ost und West auszugleichen. Denn Fakt ist, dass es noch immer erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West gibt: Im Osten wird weniger verdient und wesentlich weniger vererbt, Ostdeutsche sind massiv unterrepräsentiert in Führungspositionen. Hier muss Politik handeln. Insbesondere bei anstehenden Themen wie dem Strukturwandel oder der Energiewende können wir die  Erfahrungen der Ostdeutschen, die schon einmal einen großen Strukturwandel bewältigen mussten, von unschätzbarem Wert, nicht nur für den Osten, sondern für ganz Deutschland.

Am Ende habe ich Jörg Hildebrandt gefragt, was Regine wohl heute als Politikerin getan hätte: “Sie wäre hingegangen zu den Menschen, hätte ihnen zugehört und versucht zu helfen.” Davon bin auch ich überzeugt.